Diätologin Nina Kienreich

Ernährung | Yoga | Hormongesundheit

Gewichtsnormative in der Medizin: Mein Arzt sagt, ich soll abnehmen – und warum das ein Problem ist

23. Februar 2022

Waage Im Müll

23.Februar 2022 | PERSÖNLICHES | ESSVERHALTEN

Abnehmen scheint die Lösung zahlreicher Probleme zu sein: von Knieschmerzen bis hin zu erhöhten Blutzuckerwerten. Doch der ärztliche Rat zur Gewichtsreduktion war bei einigen meiner KlientInnen der Einstieg in ein ungesundes Essverhalten am Rande einer Essstörung. Warum meiner Meinung nach Gewichtsnormative in der Medizin das falsche Beurteilungskriterium für Gesundheit sind, erfährst du in diesem Artikel.

Darum geht es in diesem Blogpost:

  • Der BMI als Ursache allen Krankheits-Übels

  • Ist denn Übergewicht nicht die Ursache für eine Reihe von Erkrankungen?

  • Neue Ernährungs-Leitlinien – ziemlich widersprüchlich

  • Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

  • „Health at every size“ als neuer Ansatz

Der BMI als Ursache allen Krankheits-Übels

Vor ein paar Wochen betreute ich eine Klientin mit Diabetes mellitus Typ2, die zu mir kam, weil sie mit ihrem gegenwärtigen Essverhalten komplett unzufrieden war. Sie wollte ihre Essanfälle wieder in den Griff bekommen, um endlich Gewicht abzunehmen. Auf die Frage nach ihrer Diätvorgeschichte berichtete sie, dass sie nach ihrer ersten Ernährungsberatung vor vielen Jahren in ein bis heute andauerndes ungesundes Essverhalten geschlittert ist. Auf ärztlichen Rat hin hatte sie schon mehrmals versucht, Gewicht abzunehmen, die Kohlenhydrate zu reduzieren und Mahlzeiten „gesund“ zusammenzustellen. Anfangs war sie auch erfolgreich, doch jedes Mal hatte sie das Gewicht wieder zugenommen, oft über das Ausgangsgewicht hinaus. Strenge Phasen von zuckerfreier bis veganer Ernährung wechselten mit „Eh scho wurscht“ (österreichisch für „es ist schon egal“)-Phasen voller Essanfälle und Junkfood. Das Ergebnis: ein angespanntes Verhältnis zum Essen, das jede Menge Stress verursacht (sowohl im Körper als auch psychisch).

„Mein Arzt hat gesagt, ich soll abnehmen, und hat mich zu Ihnen geschickt“. Das höre ich häufig von meinen KlientInnen. Sei es, damit die Blutzuckerwerte besser werden, die Knieschmerzen weniger oder der nächste Blutbefund (Stichwort Cholesterin) im Normbereich. Es ist ja erfreulich, dass die Ärzteschaft zunehmend daran denkt, dass es uns DiätologInnen als SpezialistInnen auf dem Gebiet der medizinischen Ernährungstherapie gibt und PatientInnen zu uns überweist. Was mich daran aber gewaltig stört: dass es meist um das Gewicht bzw. den BMI als Maß aller Gesundheitsprobleme geht.

Ist denn Übergewicht nicht die Ursache für eine Reihe von Erkrankungen?

Ich finde schon den Begriff „Übergewicht“ problematisch. Das Wort „über“ suggeriert, dass es einen idealen Gewichtsbereich gibt. Liegen wir im Idealbereich, sind wir demnach gesund, wobei jede Abweichung von der Norm als pathologisch gilt. Als Maß für das „Übergewicht“ wird seit 1980 im Gesundheitswesen flächendeckend der Body Mass Index (BMI) verwendet. Versicherungen nutzen ihn bis heute zur Einstufung des Gesundheitsrisikos. Der BMI, die Relation des Körpergewichts eines Menschen zu seiner Körpergröße, ist ein schneller und einfacher Indikator im medizinischen Alltag.

Doch weder Statur, noch Geschlecht, noch die individuelle Körperzusammensetzung aus Wasser, Fettgewebe und Muskelmasse werden bei der Berechnung des BMI berücksichtigt. Gerade Sportler mit hoher Muskelmasse und Knochendichte liegen mit ihrem BMI oft im „Übergewichtsbereich“ – würde man diese als „ungesund“ bezeichnen? Zudem gibt es bis heute keine EINDEUTIGEN Studienbelege dafür, dass Übergewicht die Ursache für bestimmte Erkrankungen ist und eine Gewichtsreduktion immer gesundheitliche Vorteile bringt – trotzdem wird das bis heute so kommuniziert.

Neue Ernährungs-Leitlinien – ziemlich widersprüchlich

Die Lektüre der neuen Leitlinien zur Ernährung von Personen mit Typ-2-Diabetes der DDG stimmte mich zunächst zuversichtlich. Darin wird festgehalten, dass laut Studien Normalgewichtige mit Diabetes Typ 2 eine höhere Sterblichkeit aufweisen als Personen mit einem höheren Körpergewicht. Es heißt weiter: „Gewichtszunahmen oder Gewichtsschwankungen bei Diabetes mellitus Typ 2 sind mit einer höheren Sterblichkeit assoziiert. Gerade bei älteren Patienten gehen größere Gewichtsabnahmen mit einem Verlust der Muskelmasse einher.“ Weight Cycling (also das Ab- und wieder Zunehmen) soll vermieden werden. So weit kann ich das unterschreiben - ABER als erste Empfehlung liest man dann hervorgehoben in einem blauen Kasten: „Bei Übergewicht soll im Allgemeinen eine Gewichtsreduktion angestrebt werden.“ Wie bitte?

Es ist schon richtig, dass Gewichtsreduktion zu einer schnellen Besserung der hepatischen Insulinresistenz führt und die Blutzuckerspiegel schnell sinken. Die DIRECT-Studie räumt aber ein, dass ein größerer Gewichtsverlust nur wenigen PatientInnen gelang. Die Wahrscheinlichkeit einer Wiederzunahme nach Beendigung eines Diätprogramms wird in der Literatur mit über 80% angegeben. Weiters ist nicht abschließend geklärt, in welchem Umfang die Gewichtsreduktion tatsächlich entscheidend für die Verbesserung der Blutzuckerwerte war, da auch Ernährungsumstellungen ohne Gewichtsreduktion mitunter große Verbesserungen erzielten.

Warum soll ich also eine Therapie anbieten, von der gar nicht abschließend geklärt ist, ob sie wirklich für den Gesundheitseffekt verantwortlich ist und dich noch dazu nur sehr wenige PatientInnen tatsächlich umsetzen können?

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

Oder besser nicht - denn die Erkenntnisse über die möglichen Nachteile einer Gewichtsreduktion haben sich im Gesundheitswesen noch nicht durchgesetzt. Auch ich als Ernährungsexpertin, die lange Zeit Abnehmprogramme und Diäten nach bestem Wissen und Gewissen betreut hat, war zunächst vor den Kopf gestoßen, als ich mich zum ersten Mal damit beschäftigte. Denn die Liste der Nebenwirkungen einer Gewichtsabnahme ist lang: Abbau von Muskelmasse, chronischer Stress, infolgedessen Bluthochdruck, chronische Entzündungen, ein höheres Risiko für Osteoporose und Gallensteine und ein möglicherweise höheres Sterblichkeitsrisiko. Besonders gravierend sind die psychosozialen Nebenwirkungen wie Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, geringer Selbstwert, Gefahr der Isolation bis hin zu Essstörungen in allen Ausprägungen wie auch von meiner Klientin geschildert.

„Health at every size“ als neuer Ansatz

Nach kritischem Hinterfragen der Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Gewichtsreduktion auf die Gesundheit bin ich zur Überzeugung gekommen, dass ich keine verordneten Diäten mehr unterstützen kann, die rein auf das Erreichen eines Gewichtsnormativs abzielen. Der psychische Druck der Gesellschaft, einem optischen Ideal zu entsprechen, ist ohnehin schon so groß – da sollte auf keinen Fall auch noch seitens des Gesundheitspersonals Druck ausgeübt werden.

Ein Plädoyer für mehr Körperrespekt

Ich bin der Meinung, dass Gesundheit immer vor Gewichtsverlust stehen muss. Was bringen mir 10 Kilo weniger auf der Waage, wenn ich dadurch meine Muskelmasse verliere, mein Stresslevel steigt und ich ein ungesundes Essverhalten zwischen Kasteien und Vollstopfen mit anschließenden Schuldgefühlen entwickle? Wir müssen im Gesundheitsbereich weg vom gewichtsnormativen Ansatz hin zu einem gewichtsinklusiven Ansatz, der auch mehrgewichtige Personen einbezieht. Ich schreibe bewusst MEHRgewichtig und hoffe, dass sich dieser Ausdruck bald verbreitet, denn ÜBERgewichtig beinhaltet eine Bewertung ("du wiegst zuviel"). Die Philosophie hinter Health at every size ist ehrliche Wertschätzung des Körpers und Respekt der Körperdiversität. So wie es verschiedene Haar- und Hautfarben gibt, gibt es auch verschiedene Körperformen und -gewichte. In Kanada gibt es im Gesundheitswesen bereits Initiativen in diese Richtung – warum nicht auch Österreich?

Individuelle Ernährungstherapie

Es gibt nicht DAS normierte Idealgewicht, genauso wenig wie es DIE gesunde Ernährung für alle gibt.

Es gibt so viele Ernährungen, wie es Menschen gibt!
(Uwe Knopp)

Aus diesem Grund gibt es bei mir nur mehr individuelle Ernährungstherapie auf Basis eines Erstgesprächs mit gründlicher Anamnese. Einen einzelnen Termin, bei dem ich nur allgemeine Empfehlungen herunterbete, biete ich nicht mehr an. Die eine schnelle Lösung, die für alle passt, die gibt es nicht. Für eine hochqualitative individuelle Betreuung sind mehrere engmaschige Termine zum Üben, Experimentieren und Optimieren des Essverhaltens nötig. Wenn du dich darauf einstellst, bist du bereits auf einem guten Weg zu mehr Zufriedenheit, Wohlbefinden und Gesundheit.

Achtsam Essen und Bewegung aus Freude

Das Ziel meines Coachings ist ein flexibles und leichtes Essverhalten, Freude an Bewegung und psychisches Wohlbefinden. Meine Methoden „Achtsam essen“ und „Mindful Movement“ stelle ich dir in weiteren Blogartikeln ausführlich vor.