Buchrezension: Food Feelings von Cornelia Fiechtl
12. Jänner 2023
15. August 2022 | ESSVERHALTEN
Sachbücher liegen bei mir oft monatelang im Regal und warten darauf, gelesen zu werden. Bei „Food Feelings – Wie Emotionen bestimmen, was wir essen“ war es anders: kaum zuhause, schon verschlungen. Cornelia Fiechtl beschreibt anhand zahlreicher Beispiele aus ihrer Praxis, wie emotionales Essverhalten entsteht und räumt mit viel Fachwissen mit unserer Vorstellung von „gesundem Essen“ auf. Das Buch richtet sich an alle, die zu einem leichten, befreiten Essverhalten ohne Zügelung und schlechtem Gewissen zurückkehren wollen.
Viele kennen das Gefühl: Es gab Stress in der Arbeit, Streit mit dem Partner oder schwierige Phasen der Kinder. Und plötzlich macht sich ein innerer Drang zu essen bemerkbar, der sich erst legt, wenn eine Tafel Schokolade oder eine ganze Packung Chips vernichtet wurde. Sofort regt sich danach das schlechte Gewissen. Das war doch nicht notwendig! Warum fehlt mir einfach die Disziplin? (Zum Thema „Zu undiszipliniert zum Abnehmen“ habe ich übrigens auch schon einen Blogartikel geschrieben).
In „Food Feelings“ geht Cornelia Fiechtl, klinische Psychologin mit Spezialisierung auf emotionsregulierendes Essen, genau dieser Frage nach: Wieso wird Essen durch Belastungen im Alltag zum Rückzugsort oder Entspannungsritual? In drei Teilen erklärt die Autorin, wie Emotionen unser Essverhalten bestimmen, was der Unterschied zwischen Heißhunger und Essdrang ist und was man je nach Ursache dagegen tun kann. Detaillierte Übungsanleitungen im zweiten Teil des Buches verdeutlichen die Vorgangsweise.
Emotionales Essen ist nicht per se schlecht – im Gegenteil
Ein Aha-Moment für mich war, dass emotionales Essen nicht nur normal ist, sondern notwendig, um überhaupt zu essen. Emotionen wie Lust oder Freude führen erst dazu, dass wir uns mit Essen beschäftigen. Würde Essen keine Freude bieten, würden wir gar nicht essen. In der Fachsprache würden wir „Appetitlosigkeit“ dazu sagen. Laut Fiechtl fühlt sich emotionales Essen nur deshalb falsch an, weil wir Essen ohne Hunger als falsch bewerten und damit ungerechtfertigt Gewichtszunahme verbinden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet verliert, so finde ich, der Begriff „emotionales Essen“ seinen Schrecken.
Heißhunger ist nicht das Gleiche wie Essdrang
Für meine Arbeit hilfreich ist auch die Unterscheidung zwischen Heißhunger und Essdrang. Heißhunger entsteht durch zu wenig, unregelmäßiges oder einseitiges Essen und kann durch regelmäßiges, bedarfsdeckendes und nährstoffreiches Essen vermieden werden. Im Gegensatz dazu entsteht Essdrang eher plötzlich und trotz ausgewogener Mahlzeiten und bezieht sich meist auf ein ganz bestimmtes Lebensmittel. Er lässt sich schwerer loswerden und kann über längere Zeiträume immer wieder kommen.
Es gibt prinzipiell keine gesunden und ungesunden Lebensmittel
„Süßes sollte man nur ab und zu genießen!“ Diese Empfehlung habe ich früher durchaus auch in meinen Beratungen gegeben. Sie wird mir aber nach der Lektüre des Buches nicht mehr über die Lippen kommen. Cornelia Fiechtl zeigt die Problematik dieses Satzes auf: Formulierungen wie „selten“ oder „ab und zu“ stehen für Restriktion des Essverhaltens und implizieren, dass eine Aufhebung dieser Restriktionen zur Gewichtszunahme und Krankheit führt – was so natürlich nicht stimmt. Alle Lebensmittel können als gleichwertig angesehen werden, der Unterschied besteht lediglich darin, welche Nährstoffe in ihnen enthalten sind und wie sie jeweils vertragen werden. Dieser Satz hat etwas sehr Befreiendes!
Stress ist der Motor des Essdrangs
Ein zentraler Punkt des Buches ist der Zusammenhang zwischen Stress und Essdrang. Alles, was Energie raubt, egal ob die neue Diät oder das Schreien eines Babys, löst im Körper eine Stressreaktion aus. Langfristiger Stress führt zur Ausschüttung von Cortisol, was wiederum den Körper dazu veranlasst, Energie zu sparen und Energie heranzuschaffen – also den Essdrang fördert. Hier sehe ich mich in meinem Ansatz, wonach Stressmanagement ein wichtiger Teil des Ernährungscoachings sein muss, bestätigt.
Mein Fazit: Ein wichtiger Denkanstoß als Gegenpol zur gängigen Diätliteratur
In der Flut von Diätratgebern ist das Buch ist ein wertvoller Denkanstoß, seine Einstellung zu Idealgewicht und Ernährungsplänen gründlich zu überdenken. Es hilft, die eigene Psyche besser kennenzulernen und nimmt den von Gesellschaft und Gesundheitssektor auferlegten Druck, ständig abnehmen und gesund essen zu müssen. Es wird auch die wichtige Botschaft vermittelt: Nicht jeder, der einmal eine Tafel Schokolade auf einmal verputzt, leidet gleich an einer Essstörung.
Wer sich allerdings eine Anleitung erwartet, Essdrang schnell und ein für allemal loszuwerden, der wird enttäuscht sein. „Food Feelings“ enthält kein einfaches Patentrezept, das sofort Erfolg verspricht. Zu einem befreiten Essverhalten zurückzukehren ist ein längerer Prozess, der viel Kopfarbeit und Übung benötigt. Wer die Aufgaben und Übungsanleitungen im Buch aber konsequent durcharbeitet und umsetzt, der geht Schritt für Schritt in die richtige Richtung. Und dazu kann (oder sollte man) das Buch durchaus öfters lesen.