Diätologin Nina Kienreich

Ernährung | Yoga | Hormongesundheit

Ein hinderlicher Glaubenssatz: „Ich bin zu undiszipliniert zum Abnehmen“

20. Juni 2022

Undiszipliniert

20. Juni 2022 | ESSVERHALTEN

Viele meiner Klientinnen kommen zu mir, weil sie eigentlich abnehmen möchten, aber meinen, sie wären zu undiszipliniert dafür. Ich höre dann:

  • Wenn es stressig ist, falle ich wieder ins alte Muster. Dann habe ich ständig Gusto auf Süßes.

  • Ein paar Tage kann ich mich an einen Diätplan halten, aber dann kommt wieder der innere Schweinehund. Ich habe einfach kein Durchhaltevermögen.

  • Alle anderen können abnehmen, nur ich nicht. Ich habe einfach zu wenig Disziplin, mir abends etwas Gesundes zu kochen

Zuerst musst du wissen, dass du nicht die Einzige bist, der es so geht.

Auch ich habe es nicht geschafft, mit Ernährungswissen und Disziplin dauerhaft auf meinem Traumgewicht zu bleiben. Denn dem Glaubenssatz, mit Disziplin sein Wunschgewicht zu erreichen und es dann lebenslang zu halten, liegen mehrere falsche Annahmen zugrunde. Das heißt aber nicht, dass man es gleich bleiben lassen kann, an seinem Essverhalten zu arbeiten. Ganz im Gegenteil - es zahlt sich aus: Der Lohn ist weniger Heißhunger, voller Genuss und mehr Zufriedenheit und Lebensfreude.

Falschannahme Nr. 1: Abnehmen führt zu mehr Gesundheit, Anerkennung und Zufriedenheit

In unserem Gesundheitssystem orientiert man sich an Gewichtsnormen. Liegen wir im Idealgewichtsbereich, so sollen wir, wie es heißt, „gesund“ sein. Was dabei aber immer übersehen wird: Gewicht und Gesundheit hängen nicht linear zusammen, sondern Gesundheit hat ganz viele Faktoren im Hintergrund! Ich kenne einige mehrgewichtige Personen, deren Blutbefund besser ist als meiner und die wesentlich fitter, ausdauernder oder beweglicher sind.

Wie ich schon in meinem Blogartikel „Gewichtsnormative in der Medizin: Mein Arzt sagt, ich soll abnehmen – und warum das ein Problem ist“ ausführlich thematisiert habe, sind wissenschaftliche Studien zu den Zusammenhängen von Übergewicht und Erkrankungen widersprüchlich. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass vor allem in der zweiten Lebenshälfte moderates Übergewicht mit einer höheren Lebenserwartung verbunden ist.

Was wir mit „Dünnsein“ noch verbinden

Unsere Gesellschaft schreibt dünnen Personen Attribute wie Zielstrebigkeit, Ehrgeiz, Disziplin oder Intelligenz zu. Mehrgewichtigen Personen werden Faulheit, wenig Disziplin und Selbstkomplexe attestiert. Sie sind in Filmen allenfalls die lustigen Freund*innen. Die ständige Präsentation von schlanken, attraktiven Frauen (und Männern) führt zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper - selbst bei Menschen, deren Gewicht im wissenschaftlich definierten „Normalbereich“ liegt.

Ich plädiere dafür, bei einem Abnehmwunsch gründlich zu hinterfragen, welche Hoffnungen eigentlich damit verbunden sind. Oft geht es nämlich bei genauerem Hinsehen gar nicht um ein gewisses Gewicht auf der Waage, sondern das, was wir damit verbinden: begehrenswert sein, schöne Augenblicke genießen, fit sein, erfolgreich sein, schöne Kleidung tragen, eine tolle Freundin/Mutter/Tochter sein, Anerkennung für seine Leistungen zu bekommen oder etwa Schmerzen loszuwerden. Es gilt dann ehrlich zu beurteilen, ob Abnehmen wirklich der optimale Weg zu diesen Zielen ist. Denn eines bringt jahrelange Zügelung sicher nicht: mehr Wohlbefinden und Zufriedenheit.

Falschannahme Nr. 2: Wer nicht abnehmen kann, hat zu wenig Disziplin

Unser Essverhalten wird maßgeblich durch zwei Faktoren bestimmt: der subjektiv wahrgenommenen Norm und unserer Einstellung zu unserem Verhalten. Die bei uns gängige gesellschaftliche Norm in Bezug auf die Körperform ist wie oben beschrieben: „Schlank = gesund = erfolgreich. Süßes ist ungesund und macht dick. Ich muss mich zusammenreißen, dann nehme ich ab.“ Unsere persönliche Einstellung, wenn wir ein Stück Schokokuchen essen, steht dazu in einem krassen Gegensatz: „Das sieht so lecker aus. Ich würde mir gerne heute etwas gönnen“. Dabei läuft einem das Wasser im Mund zusammen; ein warmes, gutes Gefühl entsteht.

Druck erzeugt Gegendruck

Auf dieser Basis entsteht ein sogenannter Wert-Ziel-Konflikt. Was ist es mir wert, das Stück Kuchen zu essen? Was habe ich für ein langfristiges Ziel? Es ist wie bei einer Staumauer: Je mehr wir versuchen, dagegenzuhalten, desto mehr Druck, desto mehr Widerstand baut sich auf. Je mehr wir uns sagen: „Ich muss mich gesund ernähren und auf meine Figur achten“, desto mehr Kraft und Energie geht verloren. Kein Mensch kann auf Dauer so diszipliniert sein. Irgendwann erwacht der innere rebellische Teenager und wir stopfen uns den Kuchen gierig in den Mund. Und dann noch ein zweites Stück, denn unsere Diätpolizei schreit schon wieder laut: „Aber morgen bist du wieder diszipliniert!“

Welche Einstellung beim Abnehmen helfen kann

Es geht darum, eine bewusste Entscheidung für ein gesundes Essverhalten mit Leichtigkeit und Genuss zu treffen. Versuche, deinen Körper als Verbündeten und nicht als Gegner zu sehen. Jeder Mensch kommt mit einem natürlichen Gespür für Hunger und Sättigung auf die Welt – wir haben nur oft verlernt, darauf zu hören, weil unser Essverhalten immer verkopfter geworden ist.

Gelingt es dir, dich nicht auf eine bestimmte Kilo-Zahl zu fixieren, die wie eine Karotte vor deiner Nase herum baumelt, so bleibt der Blick frei für das Wesentliche: nämlich die positiven Veränderungen, die eine Veränderung des Essverhaltens mit sich bringt wie mehr Fitness und weniger quälender Essdrang. Wenn du diese Veränderungen wahrnimmst und feierst, so hast du genügend Motivation, um dranzubleiben – du brauchst keine eiserne Disziplin.

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